Ukraine-direkt: Reisebericht von Julian Gröger, 6/2025

Im Juli waren wir wieder mit einer Gruppe von SpenderInnen in Czernowitz, um die Familien, die wir monatlich unterstützen, wiederzusehen. Dabei aber auch etwas Kulturgeschichte aufzusaugen. Das Highlight war für viele von uns der Besuch bei einer Tarnnetz-Werkstatt, der auch den Einstieg meines Berichtes ebnet:

Die Trauer in Tarnnetze verwebt

Ein Reisebericht nach Czernowitz von Julian Gröger, 24.-28. Juli 2025

Wir befinden uns in der Nordbukowina, in der Ukraine. Die Stadt Czernowitz steht wie kaum eine andere im Osten Europas für deutschsprachige Literatur- und Kulturgeschichte. Wir sind allerdings nicht auf den Spuren von Dichtern wie Paul Celan oder Rose Ausländer unterwegs. Czernowitz im Südwesten der Ukraine galt lange als sicherer Hafen für UkrainerInnen, die vor russischen Angriffen aus dem Osten des Landes fliehen mussten.

Wir befinden uns in einem unscheinbaren Haus am Stadtrand. Im dritten Stock herrscht Stille, konzentrierte Arbeit. An großen Rahmen weben Frauen immer wieder grün-grau-tönige Bänder durch ein Netz. Es entstehen Tarnnetze von bis zu 100m2. Sie werden am nächsten Tag an die Front geschickt. Sie sollen ukrainische Abwehrsysteme vor russischen Angriffen schützen. Durch das Netz sehen wir Angela. Sie hat zu Beginn des Krieges ihren Sohn an der Front verloren. Ihr Mann starb wenige Tage später an einem Herzinfarkt. Sie sitzt jetzt neben anderen Frauen still, konzentriert, mit traurigen Augen. Um den Hals trägt sie eine Kette mit dem Bild ihres Sohnes. An den Wänden hängen eingerahmte Grüße der Soldaten, die sich für die Tarnnetze bedanken.

Anna aus Mariupol organisiert das ehrenamtliche Flechten der Tarnnetze. Mariupol ist eine Stadt im Osten der Ukraine. 2022 wurde Mariupol von russischen Truppen angegriffen, zerstört und besetzt. Wir fragen Anna, ob diese Arbeit auch Trauerbewältigung ist. „Natürlich!“, sagt sie in exzellentem Ukrainisch, das sie in den letzten Jahren gelernt hat, um nicht mehr die Sprache der Okkupanten zu sprechen. Auch Anna hat einen Sohn im Krieg verloren und ist nach Czernowitz geflüchtet. Anna und Angela sind zwei von 30 Familien, die durch unser Projekt „Winter-Wärme“ finanziell unterstützt werden. Sie bleiben bewusst in der Ukraine, wollen solidarisch sein und alles dafür tun, um nicht unter russischer Besatzung leben zu müssen.

Für uns in Deutschland klingt dieser Krieg oft sehr technisch: von Taurus, Patriot oder Leopard-Panzern hören wir. Zu selten kennen wir die Geschichten von Anna, Angela, Olena oder Karolina. Wie brutal sich dieser Krieg auf das Leben von so vielen Menschen auswirkt, erleben wir in unseren Begegnungen in Czernowitz. Karolina brachte ihre kleine Tochter unter russischem Beschuss im Krankenhaus von Mariupol zur Welt. Olena flüchtete mit ihrer Familie aus russisch besetzten Gebiet – eine stundenlange Autofahrt durch eine Todeszone, die nicht alle überleben. Der russische Angriffskrieg raubte ihnen ihr Zuhause, machte ihr Leben zum zynischen Spielball von Wladimir Putin. Wir spüren die Trauer, die Müdigkeit, die Sehnsucht, mal wieder eine Nacht ohne Luftalarm und Sorge durchschlafen zu können. Und trotzdem ist da dieser unbändige Willen, Widerstand gegen diese ungeheuren Ungerechtigkeiten zu leisten.

Wir können mit unserer Unterstützung keine Last abnehmen, aber zumindest ein paar Tage lang zuhören, umarmen, europäische Solidarität zeigen. Und ja, auch die 100 €, die jede der 30 Familien jeden Monat bekommen, helfen, das schwierige Leben im Krieg etwas erträglicher zu machen. Immer wieder hören wir, dass die Familien sich nicht nur über die finanzielle Unterstützung freuen. Vielmehr sind sie tief berührt über das Zeichen der Solidarität und unseren Mut, zumindest für fünf Tage in ihr Land zu kommen. Wir fühlen uns dadurch verpflichtet, ihre Geschichten weiterzutragen. Die Entscheidungen über notwendige Waffenlieferung trifft die Politik, aber für Angela, Anna, Olena oder Karolina können wir einen Unterschied machen.

Neben den unvergesslichen Treffen und Gesprächen mit den Binnengeflüchteten hatten wir am Ende der Reise doch noch Zeit für einen Literaturspaziergang oder einen Besuch auf dem Jüdischen Friedhof. – was man zu normalen Zeiten eben so macht, wenn man in Czernowitz ist. Auch die Literatur von Paul Celan, Rose Ausländer oder Selma Meerbaum-Eisinger aus den 1940er Jahren ist voll von der Suche nach Menschlichkeit. Inmitten der Waffen Menschlichkeit – das gilt damals wie heute. Wir dürfen nicht aufhören, gerade in Zeiten von Krieg solidarisch und im bestem Sinne Mensch zu sein. Für Angela, Anna, Olena, Karolina und die vielen anderen Menschen in der Ukraine. Diese Suche verbindet unseren Besuch, mit dem kulturgeschichtlichem Erbe der Stadt und dem Weben an den Tarnnetzen.

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